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Die Frage nach den Lebenszielen und nach dem Sinn des eigenen Lebens drängt sich spätestens dann auf, wenn man geliebte Menschen leiden und sterben sieht und einem die Endlichkeit seines Lebens und seiner Werke voll bewusst wird. Das angeborene, in der Regel durch Erziehung und gesellschaftliche Normen verstärkte Streben nach Wohlergehen, Anerkennung und Wohlstand, nach Wohlwollen, Zuneigung, Sex und Liebe, eventuell sogar – möglicherweise trotz negativer Schulerfahrungen – nach Wissen und Erkenntnis erscheint im Lichte unserer Sterblichkeit als weitgehend wertlos, sinnlos und nichtig. Mit dem Tod ist unseres Wissens eben alles vorbei.
Was ist der Mensch?
Zunächst einmal ist der Mensch – von
Evolution und Biologie her – ein Tier. Zwar unterscheidet er
sich von allen anderen Tieren zumindest graduell durch seinen
Verstand, seine Fähigkeit zur Selbstreflexion, seine
Bereitschaft zur Kooperation, seine
Geschicklichkeit im Konstruieren und Gebrauch von Werkzeugen,
durch den Reichtum und die Komplexität seiner Sprachen und vor
allem durch die Fähigkeit, Wissen mit Hilfe von Schrift und
Bildern zu
tradieren und zu kumulieren, aber in unseren Impulsen, unseren
Wünschen und unserem Verhalten unterscheiden wir uns wesentlich
weniger von anderen höheren Tieren und insbesondere von unseren
nächsten (noch) lebenden Verwandten, den Menschenaffen, als
vielen Menschen lieb ist.1
Übereinstimmende Merkmale sind z. B.
ein ausgeprägter Überlebenswille und Egoismus, der bis zur
Tötung von Rivalen reichen kann, ferner das Leben in klar
strukturierten Gruppen mit rangniedrigen und ranghöheren
Gruppenmitgliedern und einem Anführer, außerdem das Bedürfnis
nach Anerkennung und einem sicheren Status innerhalb der
Gruppe – dessen Nichtbeachtung oder gar vorsätzliche Missachtung Aggressionen und Rachegefühle
auslösen kann – sowie schließlich die Feindseligkeit bis Mordlust
gegenüber fremden, der Gruppe das Revier vermeintlich oder
tatsächlich streitig machenden oder auch nur der Besitzgier der
eigenen Gruppe im Wege stehenden Gruppen oder Individuen.2 Aber
auch Mitleid, Einfühlungsvermögen und Hilfsbereitschaft sind
bereits in Tiergruppen verbreitet – zumindest wird Hilfe dort
denjenigen Gruppenmitgliedern gewährt, die selber anderen
Gruppenmitgliedern helfen und so zum Überleben der Gruppe
beitragen oder es überhaupt erst ermöglichen: Ohne
Rücksichtnahme, gegenseitige Hilfe und gegenseitigen Schutz sind
Gruppen bildende Tiere nicht auf Dauer überlebensfähig; eben
deshalb bilden sie ja Gruppen und leben nicht wie Eisbären oder
Nashörner als Einzelgänger.
Ebenso haben wir unsere Reaktionen
bei Angst und Stress – Beschleunigung des Herzschlages,
Muskelanspannung und erhöhte Atemfrequenz zur Vorbereitung
entweder von Flucht oder von Angriff – mit vielen Tieren
gemeinsam, außerdem – gleichfalls früher zur Bewältigung von
Angriffssituationen nützlich, heutzutage im Alltag häufig
kontraproduktiv oder sogar destruktiv – unsere Neigung zu
schnellen, instinktiven Entscheidungen und zu Vorurteilen im
Sinne einer raschen – oft allzu raschen und voreiligen –
Einschätzung unserer Mitmenschen anhand sehr weniger, oft
oberflächlicher Merkmale wie Aussehen oder bestimmter
Verhaltensweisen. Auch gehört unser Hang zur
Selbstüberschätzung wahrscheinlich bereits zum äffischen oder
zumindest frühmenschlichen Erbe: Von sich selbst überzeugte und
deshalb Optimismus und Tatkraft ausstrahlende Gruppenmitglieder
hatten und haben es leichter, Anführer zu werden und sich
fortzupflanzen, als weniger dynamische Individuen – und zwar
weitgehend unabhängig von den tatsächlichen Fähigkeiten.3
Darüber hinaus wird unser privates und familiäres Verhalten
weitgehend von Instinkten und Impulsen (mit)bestimmt, die wir
gleichfalls bei unseren tierischen Verwandten vorfinden, z. B.
einem ausgeprägten Brutpflegeinstinkt (Mutter- bzw. Vaterliebe),
dem Bedürfnis nach einem Lebens- oder Lebensabschnittspartner und zugleich
der – je nach Individuum, Alter und Geschlecht unterschiedlich stark ausgeprägten
– Neigung zu
Sex auch außerhalb der
Partnerschaft.
Schließlich stammen auch unsere Ernährungsvorlieben großenteils
aus grauer Vorzeit: Von Geburt an schmecken uns kalorienreiche –
also zucker- und fettreiche – Nahrungsmittel besonders gut.
Diese Vorlieben waren während langer Epochen der
Menschheitsgeschichte sinnvoll, um satt zu werden und womöglich
für Zeiten der Nahrungsknappheit körpereigene Reserven
anzulegen. Angesichts des derzeitigen Überflusses an
Lebensmitteln zumindest in den "reichen" Ländern der Welt führt
ein rein instinktives Essverhalten bei entsprechender
genetischer Veranlagung sowie physisch und psychisch ungünstigen
Lebensverhältnissen wie z. B. Dauerstress, zu wenig Schlaf, zu
viel Film- und Fernsehkonsum und/oder zu wenig Bewegung dagegen häufig zu starkem,
bisweilen gesundheitlich bedenklichem Übergewicht.
Was ist "menschliches" Verhalten?
Offensichtlich ist sinnvolles und ethisch korrektes Verhalten
also
nicht identisch mit artgerechtem Verhalten im Sinne eines
spontanen Auslebens naturgegebener Impulse und Instinkte, denn
unsere urtümlichen Instinkte – u. a. Aggressionen, Macht- und
Rachegelüste – haben sich während des viele Jahrtausende
währenden nomadischen Lebens unserer Vorfahren in der Weite der
Savanne, in kleinen Gruppen und in ständigem, nicht zuletzt
körperlichem Überlebenskampf herausgebildet. Sie sind nicht
geschaffen für das friedliche Zusammenleben großer Mengen
einander unbekannter Menschen auf relativ engem Raum – z. B. in
Städten – und zumeist ohne unmittelbare existentielle
Bedrohungen. Für ein friedliches Zusammenleben von Menschen aus
unterschiedlichen Kulturkreisen, die sich zunächst einmal sehr
fremd und deshalb "natürlich" vorsichtig bis feindselig
gegenüberstehen, ist unsere instinktive Abwehrhaltung oft sogar
höchst hinderlich.
Deshalb müssen wir unsere Verhaltensimpulse und instinktiven
Wünsche immer wieder mit der Vernunft überprüfen und unser
Handeln an einer universalen Ethik ausrichten, die – gemäß der
prinzipiellen Gleichwertigkeit aller Menschen – zumindest dem
Grundsatz "Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch
keinem anderen zu." genügen sollte. Dabei sind mit
"keinem anderen" alle Menschen unabhängig von Geschlecht,
Hautfarbe, sexueller Orientierung, kulturellen oder persönlichen
Eigenheiten etc. gemeint und nicht etwa nur die Mitglieder der
eigenen Gruppe, Nation oder Religionsgemeinschaft. Noch besser für ein
friedliches Zusammenleben ist es freilich, nicht nur Böses zu
vermeiden, sondern Gutes zu tun, sofern Hilfe erwünscht und
sinnvoll ist, und am besten ist es
zweifellos, nicht nur jenen Gutes zu tun, die einem selbst Gutes
oder zumindest nichts Böses tun, sondern auch seine Feinde zu
lieben und gegen sie keine über die Schadensabwehr (Notwehr)
hinausgehenden Maßnahmen zu ergreifen. Im Gegensatz zu den
meisten Tieren hat der Mensch prinzipiell die Freiheit, seinen Impulsen und
Wünschen nicht zu folgen, sondern sie zu überdenken und ihnen zu
widerstehen, wenn entsprechendes Handeln anderen Menschen
schaden würde.
Allerdings ist diese Entscheidungsfreiheit (Willensfreiheit) in
vielfacher Weise eingeschränkt, und
zwar nicht nur bei Psychopathen, Süchtigen, Traumatisierten, hirnorganisch Geschädigten
oder Menschen, deren Produktion von Hormonen, Neurotransmittern
oder sonstigen Botenstoffen aus dem Lot geraten ist, sondern bei
jedem Menschen. Sowohl unsere genetische Ausstattung als auch
unsere Erziehung und unsere soziale Situation bestimmen
wesentlich mit, wie wir uns verhalten und entscheiden: Wer zum
Jähzorn neigt, hat größere Probleme, auf tatsächliche oder
vermeintliche Kränkungen nicht mit Wut und Rachegefühlen und in
der Folge mit Beleidigungen oder gar körperlicher Gewalt zu
reagieren, als ein von Natur aus friedfertiger und besonnener Mensch.
Wer als Kind oder Jugendlicher und insbesondere als Kleinkind
vernachlässigt oder misshandelt oder gar traumatisiert wird,
kann kaum jenes Maß an Selbstbewusstsein ausbilden, das notwendig ist, um Kränkungen
und Niederlagen auszuhalten, ohne entweder zu resignieren oder
aber sich zu rächen oder scheinbar grundlos herumzuwüten und schlimmstenfalls Amok
zu laufen.
Wer stets gedemütigt wurde und Gewalt als "normal"
erlebt hat, neigt meistens selbst dazu, andere Menschen – auch
ihm völlig fremde Menschen, die ihm nichts getan haben – zu
demütigen und Gewalt auszuüben und sich so "Respekt" und
Erfolgserlebnisse zu verschaffen, denn er hat nicht jenes
Einfühlungsvermögen und Mitgefühl entwickelt, über das in der
Regel Menschen verfügen,
die von liebe- und verständnisvollen, aber zugleich Grenzen
setzenden und diese Grenzen verständlich begründenden sowie sich
selbst vorbildlich verhaltenden Eltern
erzogen wurden. Wer kein Geld und auch sonst nichts zu verlieren
hat und keine klaren ethischen Grundsätze besitzt, gerät leicht
in Versuchung, sich einfach zu nehmen, was er legal nicht
bekommen kann, und sein Verhalten vor sich selbst mit der
Ungerechtigkeit der Welt oder seinem persönlichen Unglück oder
dem schlechten Vorbild der herrschenden "Eliten" zu
entschuldigen.
Ein kluger, vorausschauender Staat – zumal eine Demokratie –
schafft deshalb die Voraussetzungen dafür, dass psychisch Kranke
oder Gestörte behandelt und möglichst geheilt werden, sowie
dafür, dass Menschen mit Problemen, die sie nicht allein
bewältigen können, beraten und nötigenfalls unterstützt werden.
Er kümmert sich ferner darum, dass Kinder und Jugendliche in
"heilen" Familien, zumindest aber geliebt und gewaltfrei und
ohne – z. B. im Fernsehen! – Gewalt ansehen zu müssen aufwachsen und Einfühlungsvermögen
und Mitgefühl entwickeln können, und er lässt nicht zu, dass
Kinder bei Eltern oder sonstigen Erziehungsberechtigten
aufwachsen, die psychisch so gestört sind, dass sie die Kinder vernachlässigen oder misshandeln. Schließlich sorgt er dafür, dass
seine Bürger nicht Not leiden müssen sowie die Chance haben,
sich entsprechend ihren Fähigkeiten zu bilden und tätig zu
werden und ein angemessenes Einkommen zu erzielen.
Verantwortungsbewusste Politiker liefern die Menschen deshalb nicht
einfach dem "Markt" oder dem
"freien Spiel der Kräfte" aus, denn das "freie Spiel der
Kräfte" führt zwangsläufig zur Konzentration von Macht und
Vermögen und dazu, dass die reich und mächtig Gewordenen und
deren Nachkommen den Aufstieg von Konkurrenten zu verhindern
suchen und die Masse der Bevölkerung in Abhängigkeit und
(relativer) Armut halten. Interveniert der Staat nicht zugunsten
der Schwächeren und der Habenichtse, kommt es folglich zu
krasser sozialer Ungleichheit und Ungerechtigkeit, zu einem
rapiden Anstieg der Gewaltdelikte und allgemein zur Verrohung
der Gesellschaft.
Auf keinen Fall dürfen Mächtige, sofern sie sich ethischen
Minimalstandards verpflichtet fühlen, selbst Folter und Mord
befehlen oder billigen oder – fahrlässig oder gewollt –
Situationen schaffen, in denen Menschen das Gefühl haben,
foltern und morden zu dürfen oder gar zu sollen. Denn die
meisten Menschen können – weil Menschen Gruppentiere und
mehrheitlich autoritätsgläubig sind – Gruppendruck und
Anweisungen oder auch nur Erwartungen "von oben" nicht lange
widerstehen und sind schnell bereit, "für einen höheren Zweck"
zu foltern und zu morden. Die Geschichte kennt etliche
Beispiele: die Folterung und Ermordung oder die Veranlassung der
Folterung und Ermordung so genannter Ketzer durch
die katholische
Inquisition, aber auch durch Reformatoren wie z. B. Johannes
Calvin, die so genannten Hexenverfolgungen, die Völkermorde und
sonstigen Gräueltaten der Kolonialmächte, ferner Deutschland
unter Hitler, Kambodscha unter den Roten Khmer, Ruanda unter den Hutu-Milizen
sowie den Völkermord in Darfur, aber auch – in freilich weitaus kleineren
Dimensionen – Abu Ghraib, Guantánamo und zahllose weitere
Gefängnisse in aller Welt. Auschwitz ist nicht Vergangenheit,
sondern Gegenwart und Zukunft, solange Menschen so macht- und
geldgierig, mitleidlos, autoritätsgläubig und ideologisch
verblendet sind, wie sie es nun einmal nicht selten sind.
In vielen Armeen – auch von
Demokratien – werden das
Selbstwertgefühl und die ethischen Maßstäbe von Rekruten sogar
systematisch zerstört, um sie zu willigen Mordwerkzeugen zu drillen. Es ist klar, dass eine solche
Umerziehung / Verstärkung eventuell bereits vorhandener
psychischer und emotionaler Defizite oftmals gravierende Folgen
für das spätere zivile Leben der derart "Behandelten" hat.
Letztlich ist es nicht eigenes Verdienst, sondern Glück oder
Gnade, wenn ein Mensch dank günstiger Umstände zeitlebens nicht
ernsthaft in Versuchung gerät, zum Folterer und Mörder zu werden.
Was kommt danach?
Nach menschlichem Wissen kommt nach dem Tode nichts, ist
menschliches Leben, Leiden und Sterben von Natur aus zufällig und sinnlos.
Sinn muss jeder Mensch seinem Leben selbst geben, wenn es ihm
wichtig ist, dass sein Leben Sinn hat.
Weil das so ist, gibt es für einen Atheisten keinen letzten
Grund, sich an die in einer Gesellschaft geltenden Gesetze und
ethischen Maßstäbe zu halten: Stalin z. B. war nicht zuletzt
deshalb erfolgreich, weil er skrupellos war. Andererseits sind Gottgläubige erfahrungsgemäß
in der Regel nicht humaner
und friedfertiger als Atheisten oder Agnostiker – Fanatiker
gleich welcher Religion schon gar nicht.
Zugleich ist offensichtlich, dass viele, wahrscheinlich
sogar die meisten Menschen
religiös sind: Teils wollen sie sich nicht mit dem Tod als dem
endgültigen Ende ihres Daseins abfinden und brauchen anscheinend
auch eine Instanz, die wenn schon nicht auf Erden, dann doch
wenigstens in einem wie immer gedachten Jenseits Gerechtigkeit
und für die "Guten" dauerhafte Glückseligkeit garantiert.
Zumindest in früheren Zeiten, als man in Europa noch an eine
Vielzahl von Göttern glaubte und diese auch negative
Eigenschaften haben durften, konnte man mit ihrem Wirken
außerdem zahlreiche unverstandene und bedrohliche Naturereignisse
erklären. Wissenschaftlich ziemlich gesichert ist auch, dass
Menschen, die an einen gnädigen Gott glauben und ihm vertrauen,
im Durchschnitt etwas länger und zufriedener leben und seltener
krank sind.
Der Glaube an (einen wohlwollenden) Gott oder hilfreiche "höhere Mächte" scheint demnach einige Vorteile zu haben und konnte sich vielleicht deshalb im Laufe der Evolution durchsetzen und offenbar sogar biologisch verankern: Das Konzept einer Trennung von Körper und Geist bzw. Leib und Seele und eines Weiterlebens nach dem Tode als körperloser Geist ist Kindern im Vorschulalter unmittelbar vertraut. Die Zweifel kommen – wenn überhaupt – erst später.
Der Glaube an ein Leben nach
dem Tod bietet also individuellen Trost; der Glaube an göttliche Ge-
und Verbote begründet und sichert ethische Standards – freilich
ebenso vernunftwidrige und menschenfeindliche Normen und Gesetze – und
stabilisiert Gesellschaften; mit dem Glauben an göttliches
Eingreifen lässt sich Unerklärliches "erklären" und
Hoffnung auch in schwierigen Zeiten legitimieren. Darüber hinaus entlastet der
Glaube an eine "höhere Macht" von dem Stress, alles aus
eigener Kraft schaffen zu müssen. Wer sich als winziges Rädchen
in einem höheren Plan versteht, darf versagen und
muss nicht die Welt retten. Die Natur der "höheren Macht"
bzw. die konkreten Glaubensinhalte sind für diese
Entlastungsfunktion ziemlich irrelevant. Nur "gut" bzw.
wohlwollend muss die "höhere Macht" schon sein: Der Glaube an
einen strengen und strafenden Gott führt dagegen leicht zu
Psychosen und Depressionen.
Allerdings wird wohl kein Mensch wegen der möglichen positiven
persönlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen des Glaubens
anfangen, an einen menschenfreundlichen Gott zu glauben. Zudem gibt es Fragen, die selbst für den
wahrhaft Gläubigen schwer zu beantworten sind, z. B.:
Die Antworten der Religionen auf solche
wesentlichen Fragen sind äußerst dürftig.
Freilich lässt sich auch nicht beweisen, dass kein Gott
existiert, und es ist durchaus denkbar, dass es Bereiche der
Wirklichkeit gibt, die der Mensch weder unmittelbar noch
mittelbar wahrnehmen bzw. erschließen kann. Auch können die
Naturwissenschaften selbst das bislang Bekannte und Erschlossene
häufig nicht befriedigend erklären. Der Glaube an Gott ist
deshalb nicht per se vernunftwidrig, jedoch keine gute Grundlage
für Entscheidungen, die das Gemeinwohl betreffen: Gläubige
und Glaubensgemeinschaften handeln unethisch, wenn sie – was
leider auch in Deutschland immer wieder vorkommt – versuchen,
ihre unbewiesenen und unbeweisbaren Überzeugungen, moralischen
und gesellschaftlichen Vorstellungen sowie ihre Lebensweise
Anders- und Nichtgläubigen per Gesetz aufzuzwingen, oder wenn sie
durchzusetzen versuchen, dass wissenschaftlicher Unsinn wie die
biblischen Schöpfungsgeschichten als wissenschaftliche Wahrheit
in den Schulen gelehrt wird.
Glauben sollte also Privatsache sein und bleiben, denn
gesellschaftliche und politische Entscheidungen bedürfen
rationaler Grundlagen, die der Glaube per definitionem nicht
bieten kann. Zudem lehren uns Vergangenheit und Gegenwart, dass
die Früchte des Glaubens in der Praxis leider ziemlich häufig nicht Hoffnung und Liebe, sondern Ignoranz, Intoleranz,
Unterdrückung, Hass,
Terror, Gewalt und Tod sind. Als Europäer sollten wir dabei
freilich nicht nur an den Iran und Saudi-Arabien und weitere auf dem
Islam basierende Diktaturen denken: Auch in Europa mussten
Demokratie und
Menschenrechte gegen das Bündnis von Thron und
Altar erstritten werden – und der Vatikan hat die Europäische
Menschenrechtskonvention bis heute nicht unterzeichnet.
1 Vgl. Sie zum problematischen evolutionären Erbe der
Menschheit z. B. Eckart Voland, Die Natur des Menschen.
Grundkurs Soziobiologie, München 2007, sowie Ernst Peter Fischer
/ Klaus Wiegandt (Hrsg.), Evolution und Kultur des Menschen,
Frankfurt a. M. 2010.
2 Vgl. Sie zu Morden zwischen Schimpansengruppen z.
B. den Artikel
Lethal intergroup aggression leads to territorial expansion in
wild chimpanzees von John C. Mitani, David P. Watts and
Sylvia J. Amsler in der Zeitschrift
Current Biology, Juni 2010.
3 Vgl. Sie zur häufig fatalen Neigung, selbstsicheres
Auftreten als Zeichen für Kompetenz zu werten, sowie allgemein
zum Hang des Menschen, die eigenen Fähigkeiten, z. B. das
Erinnerungsvermögen, gefährlich zu
überschätzen, z. B.: Christopher Chabris und Daniel Simons, Der
unsichtbare Gorilla. Wie unser Gehirn sich täuschen lässt,
München 2011. Außer in Politik und Wirtschaft ist die
Wertschätzung überzeugungsstarker, aber nicht entsprechend
kompetenter Personen auch vor Gericht oft
verhängnisvoll: Sachverständige Psychologen schätzen, dass ca.
ein Drittel der Urteile, die nur
auf Zeugenaussagen beruhen, Fehlurteile sind. Vgl. Sie dazu z.
B.: Sabine Rückert, Lügen, die man gerne glaubt. Auch in der
deutschen Justiz werden falsche Beschuldigungen umso lieber für
wahr gehalten, je präziser sie den Erwartungen der Belogenen
entsprechen, in: DIE ZEIT, 07.07.2011. Da die deutschen Richter
und Staatsanwälte
Justizirrtümer aber für absolute Ausnahmen halten, hilft den
unschuldig Verurteilten in der Regel niemand.
Links
AG
Evolutionsbiologie im Verband Biologie, Biowissenschaften &
Biomedizin
Giordano Bruno Stiftung – Stiftung zur Förderung des
evolutionären Humanismus
Naturkundemuseen
Entstehungsjahr: 2011